Das Jahr 1933 bedeutete für den gesamten Bereich der Kunst einen tiefen Einschnitt. Nach Hitlers Machtergreifung wurde die Kultur gleichgeschaltet und jede, die jüdischer Herkunft oder politische
Gegner waren, durften nicht schreiben, malen, komponieren oder in Theatern und Filmen auftreten. Während des Nationalsozialismus wurden in Deutschland zahlreiche Bücher namhafter Autoren
öffentlich verbrannt und ganze Stilrichtungen verboten.
Zahlreiche Künstler verliessen Deutschland und gingen ins Exil, wobei viele ohne richtige Lebensgrundlage dort vereinsamten. Einige Autoren gaben die Hoffnung ganz auf, eines Tages zurück nach
Deutschland zu können, und begingen Selbstmord.
Andere sind in Deutschland zurückgeblieben oder mussten hier bleiben, wobei aber nur wenige Werke erscheinen durften, alle vorher geprüft.
Text:
„Wenn die Haifische Menschen wären“, fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?“
„Sicher“, sagte er. „Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie
würden dafür sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitärische Maßnahmen treffen, wenn z.B. ein Fischlein sich die Flosse verletzten würde,
dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit.
Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige.
Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden z.B. Geographie brauchen, damit sie
die großen Haifische, die faul irgendwo rumliegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und
Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freiwillig aufopfert, und sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den
Fischlein beibringen, dass diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein
hüten, und es sofort melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete.
Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein
führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der
anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sich bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und könnten einander daher
unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein, tötete, würde sie Orden aus Seetang anheften und den Titel Held
verleihen.
Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in
denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären.
Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die
Kapelle voran, träumerisch, und in der allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten.
Auch eine Religion gäbe es ja, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauche der Haifische richtig zu leben begännen.
Übrigens würde es auch aufhören, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften
sogar die kleineren fressen. Dies wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten innehabenden Fischlein würden für die
Ordnung unter denn Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau werden.
Kurz, es gäbe erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären.“
Interpretation:
Die kleine Tochter der Wirtin hat Herrn K. eine Frage gestellt ("Wenn die Haifische Menschen wären", wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?"), worauf er mit der prompten Antwort: „Sicher“ reagiert. Dann erklärt er genauer, warum. In dem letzten Satz seiner langen Antwort erwähnt er das Wort „Kultur“. Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst hervorbringt im Gegensatz zur Natur, die er nicht gestalten kann. Damit werden alle Bereiche und Aspekte der Gesellschaft einbezogen. Kultur bedeutet hier besonders Struktur, Ordnung, Regeln. Wenn die Haifische Menschen wären, hätten sie also im Meer eine Kultur geschaffen.
Die Kultur, die Brecht kritisiert, ist die bürgerliche Kultur der kapitalistischen Gesellschaft, die den Unterschied zwischen den sozialen Schichten, die Ausbeutung und die Unterdrückung ermöglicht. Die Mächtigen und Reichen rechtfertigen ihr Benehmen und ihre Ungerechtigkeit. Für seine Kritik verwendet Brecht Ironie, Satire und Paradox.
Der Autor empfindet die Menschheit eher als Täter und nicht als Opfer. Er will damit Kritik an der ungerechten Gesellschaft üben, wo die Mächtigen die größte Verantwortung für dieses System tragen.
Text:
Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen - die Gewalt.
„Was sagtest du?“, fragte ihn die Gewalt.
„Ich sprach mich für die Gewalt aus“, antwortete Herr Keuner.
Als Herr Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.“
Und Herr Keuner erzählte folgende Geschichte:
In die Wohnung des Herrn Egge, der gelernt hatte, nein zu sagen, kam eines Tages in der Zeit der Illegalität ein Agent, der zeigte einen Schein vor, welcher ausgestellt war im Namen derer, die die Stadt beherrschten und auf dem stand, dass ihm gehören solle jede Wohnung, in die er seinen Fuß setzte; ebenso sollte ihm auch jedes Essen gehören, das er verlange; ebenso sollte ihm auch jeder Mann dienen, den er sähe.
Der Agent setzte sich in einen Stuhl, verlangte Essen, wusch sich, legte sich nieder und fragte mit dem Gesicht zur Wand vor dem Einschlafen: „Wirst du mir dienen?“
Herr Egge deckte ihn mit einer Decke zu, vertrieb die Fliegen, bewachte seinen Schlaf und wie an diesem Tage gehorchte er ihm sieben Jahre lang. Aber was immer er für ihn tat, eines zu tun hütete er sich wohl: Das war, ein Wort zu sagen. Als nun die sieben Jahre herum waren und der Agent dick geworden war vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen, starb der Agent. Da wickelte ihn Herr Egge in die verdorbene Decke, schleifte ihn aus dem Haus, wusch das Lager, tünchte die Wände, atmete auf und antwortete: „Nein.“
Interpretation:
In einer dieser Keunergeschichten, der politische Parabel „Maßnahmen gegen die Gewalt“, verweist der Autor auf das Problem, wie sich das Individuum der
Bedrohung durch staatliche Gewalt stellt.
Der Verfasser erläutert diesen Fakt aus einer auktorialen Erzählperspektive, demnach aus einer wissenden Sicht, indem er sich zweier Varianten des Umgangs mit der Gewalt bedient. Durch die
Verwendung des Plurals im Titel „Maßnahmen gegen die Gewalt“ deutet Bertolt Brecht bereits an, dass es sich um unterschiedliche Entscheidungsmöglichkeiten handelt. Im Weiteren verdeutlicht er,
dass man zum Überleben in bedrohlichen Situationen, die durch Gewalt hervorgerufen wurden, zum einen seine wahre Haltung nach außen hin verleugnet oder zum anderen sich scheinbar der Gewalt
ausliefert, aber innerlich an seinen menschlichen Prinzipien festhält.
Im ersten Teil der Parabel, der Rahmenerzählung, nimmt die Hauptfigur Herr Keuner, als politischer Redner fungierend, zunächst eine ablehnende Haltung gegenüber der Gewalt ein. Bei der direkten Konfrontation mit der personifizierten Gewalt, die somit nicht als ein Abstraktum verstanden, sondern als unmittelbare, menschliche Bedrohung erfahren wird, verleugnet Herr Keuner sofort, dadurch für seine Schüler und auch für den Leser unerwartet, seine ursprüngliche Einstellung zur Gewalt. Als Lehrender muss er jedoch eine gewisse Vorbildrolle erfüllen und auf Glaubwürdigkeit achten. Keuner erklärt aus diesem Grund seinen Schülern metaphorisch, dass er „kein Rückgrat zum Zerschlagen“(Z.7) besäße, d.h., dass er durchaus über eine aufrechte Gesinnung verfüge, dass jedoch die Frage steht, ob man dafür ein Martyrium auf sich nehmen müsse. „Gerade er, als „Denkender,“(Z.1) muss länger leben als die Gewalt.“(Z.8).